Wenn Visionen wahr werden: Die Compagnia di Sant’Orsola entsteht

Beim Stichwort „blond“ braucht die Suchmaschine Google gerade 33 Hundertstelsekunden, um 86,2 Millionen Treffer zu finden. „Brünett“ bringt es auf bescheidene 1,2 Millionen Treffer, „schwarzhaarig“ muss sich mit 587.000 Treffern begnügen. Blond war auch im ausgehenden 15. Jahrhundert die angesagte Trendfarbe. Dem Modediktat aus Venedig fügten sich zahlreiche oberitalienische Frauen und versuchten mit ausgeklügelten Bleichverfahren, ihr Haar blond zu färben.

Eine junge Frau in Salò am Westufer des Gardasees ist von Natur aus blond. Mit Asche und Ruß bemüht sie sich, ihrem Haar den blonden Zauber zu nehmen. Sie wendet sich demonstrativ gegen diese Mode. Und das in einer Zeit, die wir heute als Renaissance bezeichnen: Das Denken kreist um die schönen Dinge des Lebens: Aussehen, Kleidung, gutes Essen. Diese junge Frau, die bei ihren Verwandten in Salò in einem gebildeten, städtischen Haushalt aufwächst, macht keine bella figura. Sie bestreut ihren Salat aus erlesenen Kräutern mit einer Handvoll Erde, um ihm seinen Wohlgeschmack zu nehmen. Wer war diese junge Frau, die mit diesen Details von ihren Zeitgenossen beschrieben wird? Die sich mit ihrer eigenen Lebensweise so entschieden gegen die „Theater – und Fassadengesellschaft“ ihrer Zeit stellt? Angela Merici aus Desenzano.

Mit 18 Jahren kommt sie zu ihren Verwandten mütterlicherseits nach Salò. Ihre Eltern waren ebenso früh verstorben wie ihre geliebte Schwester. Der Tod der Schwester scheint ihr dabei besonders nahe gegangen zu sein. Bei Desenzano sieht Angela die Seele ihrer verstorbenen Schwester, inmitten einer Schar Engel, glücklich frohlockend. Sie hatte die Feldarbeit zur Mittagszeit unterbrochen, um eines der gewohnten Gebete für die Schwester zu verrichten. Ja, der Glaube an Gott spielte von Anfang an für Angela eine wichtige Rolle: Ihr Vater Giovanni las den Kindern abends aus einem Buch die Legenden der Heiligen vor: Sie hörte von der tapferen britannischen Königstochter Ursula, die dem Werben eines heidnischen Königssohns widerstand. Und vom Sohn eines reichen Tuchhändlers aus Assisi namens Franziskus. Dem Mann, der sich vor den Augen des Bischofs seiner Kleider entledigte und schimmliges Brot aß. Er, der zum Vorbild zahlreicher Reformbewegungen in der Kirche geworden war, von denen sich Angela zunehmend angezogen fühlt. Während in Deutschland ein Mönch namens Martin Luther seine Stimme gegen eine selbstgefällige, korrupte Kirche erhebt, haben in Oberitalien die katholischen Reformbewegungen insbesondere im Adel und im gebildeten Stadtbürgertum einen regen Zulauf. Angela schließt sich diesen Bewegungen an, wird „Tertiarin“, also Mitglied im Dritten Orden der Franziskaner. Dieser fühlt sich sowohl dem Gebet und der Meditation als auch den Werken der Nächstenliebe verpflichtet: Zu Angelas Aufgaben gehören dabei vor allem der Besuch bei den Kranken und das Totengeleit, die Begleitung der Verstorbenen auf den Friedhof.

20-jährig kehrt Angela in ihre Geburtsstadt Desenzano zurück. Sie übernimmt anfallende Hausarbeiten und arbeitet auf dem Feld mit anderen Frauen. Als diese zum Essen gehen, zieht Angela sich zum Gebet zurück. Abermals sieht sie den Himmel offen: Auf einer Leiter steigen Engel auf- und nieder. Sie reichen jungen Mädchen ihre Hand und geben ihnen Halt. Ihre Schwester ist dabei und lässt ihr wissen: „Gott will sich deiner bedienen. Du wirst eine Gemeinschaft junger Frauen gründen.“ Obwohl Angela gegenüber Visionen skeptisch eingestellt ist, lässt sie diese prophetische Botschaft nicht mehr los.

1516 geht sie nach Brescia: Handel und Handwerk blühen, Wolle und Waffen werden hergestellt, Kunst und Wissenschaft florieren. Die soziale Schere geht aber gerade in dieser reichen Stadt weit auseinander. Die Schattenseiten sind nicht mehr zu übersehen: Da der dekadente Luxus, dort die wachsende Armut. Sittenverfall, Prostitution und Syphillis. Die Kritik wird lauter an einer Kirche, die lieber mit den Reichen feiert. Eine geheime Druckerei in Venedig verbreitet reformatorische Lehren, eine antikatholische Prozession bewegt sich durch die Stadt, die man auch das „zweite Rom“ nennt, weil in den zahlreichen Kirchen und Klöstern zugleich ein vielfältiges religiöses Leben aufblüht. Dem Versagen des Klerus stehen Laienbewegungen wie die „Gesellschaft der göttlichen Liebe“ oder angesehene Mysterikerinnen gegenüber, die die äußere und innere Reform der Kirche anstreben. Angela kommt mit ihnen wie mit den angesehensten Persönlichkeiten der Stadt in Kontakt. Sie genießt ein hohes Ansehen, obwohl oder vielleicht gerade weil sie sich weiter für einen entschiedenen Weg der Askese entscheidet: Gemüse statt Fleisch, eine Strohmatte als Bett, ein Stück Holz als Kopfkissen. Ein reicher Tuchhändler nimmt sie in ihr Haus auf, um von ihr zu lernen. Mit ihm zusammen unternimmt sie abenteuerliche Reisen: Nach Mantua, nach Rom und ins Heilige Land nach Jerusalem.

1529 flieht Angela aufgrund der Kriegswirren nach Cremona. Dort erhält sie Besuch aus den höchsten politischen und gesellschaftlichen Kreisen: Im Schlepptau des Mailänder Herzogs Franzesco Sforza suchen zahlreiche Mitglieder des Hofes, Geistliche und Adelige aus Mailand ihren Rat. Doch Angela erkrankt schwer. Ein Freund liest ihr bereits das Gedicht vor, das er für ihre Grabinschrift verfasst hat: „Jetzt lebt sie im Himmel, voller Freude, mit Palmen gekrönt, glückselig unter Engeln.“ – Als sie diese Worte hört, erhebt sie sich, spricht von der himmlischen Glückseligkeit, bedauert, dass sie davon noch weit entfernt ist, und wird gesund. Befindet sich in ihrem Kopf doch weiterhin ihr großer Traum: Eine Gemeinschaft von jungen Frauen zu gründen. Eine Gemeinschaft für Frauen, denen ein anderer Lebensentwurf vorschwebt. Ein Lebensentwurf, der sich nicht auf die Alternative „Mann oder Mauern“ beschränkt. Unverheiratet und dennoch nicht versteckt hinter hohen Klostermauern – im 16. Jahrhundert eine geradezu utopische Vorstellung!

Es sollte noch etliche Jahre dauern, bis sich diese unabhängige Frauengemeinschaft allmählich herausbildet. Am 25. November 1535 Jahren ist es dann soweit: Nach einer gemeinsamen Messfeier schreiben sich in Brescia 28 Jungfrauen in das „Buch der Gesellschaft“ ein. Sie werden aufgenommen in die „Compagnia di Sant’Orsola“, die „Gesellschaft der heiligen Ursula“. Es sind Töchter von Goldschmieden, eines Gewürz- und Parfümhändlers, von Bäckern, Pächtern, eines Juristen sowie die Schwester eines Priesters. Junge, unverheiratete Frauen aus allen sozialen Schichten: Dienerinnen oder Angestellte, Töchter von Persönlichkeiten des brescianischen Adel und Bürgertums. Sie leben nicht weltabgeschieden, wie dies bei Nonnen normalerweise der Fall war, sondern weiterhin bei ihren Familien, in den Häusern ihrer Arbeitgeber. Aber sie treffen sich regelmäßig: Um miteinander zu beten, um miteinander die Eucharistie zu feiern. Und um sich für jene jungen Frauen einzusetzen, die auf der Nachtseite einer blühenden Stadt leben: Die Kranken, die Waisen, die sogenannten „Büßerinnen“, also jene Mädchen, die sich bisher als Prostituierte durchschlagen mussten.

Angela verfasst eine Regel für ihre Gemeinschaft und schreibt damit Geschichte: Es entsteht die erste Ordensregel, die eine Frau als Autorin hat. Auch in ihrer Gemeinschaft verpflichten sich die Frauen auf die Evangelischen Räte der Jungfräulichkeit, der Armut und des Gehorsams. Diese Ratschläge des Evangeliums versuchen sie allerdings modern zu interpretieren. So verstehen sie den Gehorsam beispielsweise als individuelles Hören auf den Heiligen Geist.

Ungewöhnlich für eine Frauengemeinschaft dieser Zeit ist auch das hohe Maß an Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Am deutlichsten wird dies in der Haltung gegenüber Männern, selbst gegenüber männlichen Geistlichen: Beichte und Sakramente ja, aber deutliche Absage an jedwede Leitungsansprüche. Angela warnt in ihren Schriften ihre Colonelli, ihre geistlichen Führerinnen der „Gesellschaft der Ursulinen“, davor, dass der Wolf sogar im religiösen Schafspelz daherkommen könne.

Als gewählte „Generalmutter“ der Ursulinen sind Angela nur noch wenige Jahre zur Gestaltung geblieben: Knappe fünf Jahre nach der Gründung der „Ursulinen“ streiten sich die Chorherren von Sant’Afra mit den Chorherren der Kathedrale von Brescia darum, wer den Leichnam Angelas als Reliquie besitzen dürfe. Deshalb, so die Chronisten, verzögert sich sogar die Beisetzung der Frau, die nach einer schweren Krankheit am 27. Januar 1540 (vor 476 Jahren) stirbt und in mit ihrem Tertiarinnengewand in der Kirche Sant’Afra aufgebahrt wird. Sie wird inmitten einer so großen Menschenmenge zu Grabe getragen, dass der Zug wie das Begräbnis eines Fürsten wirkt. Eine der Inschriften auf ihrem Sarkophag besagt: „Angela lebt nun gleichzeitig an drei Orten: Ihr Körper ruht im Grabe, ihre Seele weilt im Himmel. Ihr Name ist lebendig auf den Lippen der Menschen.“

Lebendig blieb der Name von Angela Merici auf den Lippen unzähliger Menschen, die ihr Leben in den Dienst der „Gesellschaft der Heiligen Ursula“ stellten. Wie bei allen Gemeinschaften waren die Jahre nach dem Tod eines charismatischen Gründers nicht leicht. Die Ursulinen blieben davon nicht verschont und bewegten sich dann doch auf die Klostermauern zu. Im Lauf der Jahrhunderte entwickelten sich die Ursulinen zum größten Frauenorden, der sich der Erziehung widmet. Sie wurden weltweit wegweisend für die Errichtung eines Mädchenschulwesens.

In der westlichen Welt mag uns die Bildung von Mädchen heute als Selbstverständlichkeit erscheinen. In anderen Teilen der Welt ist sie dies auch heute noch keineswegs: Im Afghanistan des Jahres 2010 besuchen nach Angaben von Human Right Watch 60 Prozent der Mädchen im schulfähigen Alter keine Schule, weil sie sich dabei in Lebensgefahr begeben.

Franz-Josef Scheidhammer